Mitri Raheb

Rede von Dr. Mitri Raheb anlässlich des Empfangs des Olof Palme Preises, Stockholm, Schwedisches Parlament, 29. Jänner 2016



Sehr geehrte Frau Lisbeth Palme,
Exzellenzen, liebe FreundInnen, meine Damen und Herren

Es ist mir eine große Ehre, an diesem Tag der Überreichung des Olof Palme Preises mit Ihnen zu sein. Ich habe in der Vergangenheit mehrere wertvolle Preise erhalten, aber dieser geht mir besonders zu Herzen. Er ist etwas Besonderes, denn er trägt den Namen Olof Palme, eines der mutigsten politischen Führer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der es wagte, dem Imperium die Stirn zu bieten; ein visionärer Führer, der wusste, dass Apartheid nicht toleriert werden darf, und dass der Schrei nach Befreiung in vielen Ländern des globalen Südens gehört und unterstützt werden muss.

Mit großer Freude nehme ich den Preis hier in Schweden an, in einem Land, das immer schon die  Menschenrechte und das internationale Gesetz verteidigt hat, ein Faktum, das sich erst kürzlich bestätigt hat durch die Anerkennung des Staates Palästina, wodurch sich zeigt, dass es seiner Regierung ernst ist mit dem internationalen Gesetz, und dass sie doppelte Standards nicht duldet. Seit 2008 ist  das Internationale Olof Palme Zentrum ein strategischer Partner gewesen, der uns bei der Ausbildung zukünftiger Führer in Palästina unterstützt  und diese ausgestattet hat, um aktive Bürger  in der Gesellschaft zu werden. Dieser Preis ist die Krönung dieser Partnerschaft. Und ich bin glücklich, diesen Preis mit Gideon Levi zu teilen, einem der präzisesten Journalisten und einer der mutigen prophetischen Stimmen im heutigen Israel.

Exzellenzen, nächstes Jahr wird  Palästina sich an die 100. Wiederkehr  der Balfour Deklaration erinnern, als das britische Empire  unser Land für die Kolonisierung freigegen hat. Das Jahr 2017  markiert auch  die 50. Wiederkehr  der Besetzung der Westbank, des Gazastreifens und der Golan-Höhen. Ich war fünf Jahre alt, als ich die israelischen Soldaten in die kleine Stadt Bethlehem einmarschieren sah. In allen  diesen Jahren  erfuhr ich, was die israelische Besetzung in unserer Gesellschaft anrichtet, ich konnte sehen, wie die ganze Westbank mehr und mehr einem Stück Schweizer Käse ähnlich wurde, wobei Israel den Käse bekommt, das Land und seine Ressourcen, und die Palästinenser in die Löcher gestoßen werden.

Ich beobachte das in meiner eigenen Heimatstadt Bethlehem, wo sich 86 % unseres Landes nicht unter unserer Kontrolle befinden, sondern von jüdischen Siedlern kolonisiert sind, die unentwegt unsere Ressourcen ausbeuten, Steine, Wasser, Mineralien. Ich verfolge den Bau der Trennungsmauer, die während unseres Gesprächs im Cremisan-Tal weitergeführt wird, nicht etwa entlang der Grünen Linie, sondern im Hinterhof des am weitesten draußen befindlichen Hauses unserer Stadt, damit die Stadt nicht weiter wachsen kann. Als Pastor sehe ich, wie die Besetzung die Formung  unserer Gesellschaft zerstört: eine Stadt, die sich nicht ausdehnen kann, ist zum Tode verurteilt; ohne die Möglichkeit zu wachsen und neue Viertel zu bilden,  können wir keine vernünftige Stadtplanung vornehmen. Die „kleine Stadt“ verliert ihren Charakter. Ohne Möglichkeiten, sich auszudehnen und ohne Bewegungsfreiheit wird die Arbeitslosigkeit steigen, und dadurch werden wir mehr  soziale Spannungen haben, mehr Verbrechen – und durch die Kriminalität steigen das Drogenproblem und die Gewalt. Das ist keine Naturkatastrophe, die vom Himmel fällt, sie ist durch die Feindseligkeit der Menschen gemacht und systematisch geplant, und sie wird zum Teil von der internationalen Gemeinschaft finanziell unterstützt.

Als Pastor, der in der kleinen Stadt lebt, frage ich mich ständig: Wie wird unser Volk überleben, physisch, sozial, wirtschaftlich und spirituell? Wie kann ich für Menschen die gute Nachricht predigen, die jeden Morgen aufwachen und wieder eine schlechte Nachricht hören? Die Fortdauer der Besetzung verweigert uns unsere Freiheit und das Recht, unsere Selbstbestimmung zu leben. Sie macht unser Volk inhuman. Die Besetzung stiehlt nicht nur unser Land, sondern auch unsere Zukunft und die unserer Kinder. Sie raubt unseren Kindern die Fähigkeit, in Würde und Wohlstand zu leben. Die Besetzung zerstört unsere Seelen als Palästinenser und die Seelen der Israelis auch.

Aber nicht nur unsere politischen und wirtschaftlichen Rechte werden uns verweigert, sondern auch unsere kulturellen und religiösen: Man verweigert uns das Recht auf unsere eigene Narrative, die für sich selbst steht, das Recht, unsere Geschichte so zu erzählen, wie wir sie erfahren, das Recht, die Bibel mit unseren eigenen Augen zu lesen und nicht immer durch eurozentrische Brillen nach dem Holocaust. Das größte Problem  im heutigen Mittleren Osten  sind diejenigen Gruppen, die sich selbst zu  Gottes Richtern  auf Erden ernennen; sie glauben, sie haben das Recht zu sagen, wer „kafer“ (untreu) ist und wer nicht, wer „kosher“ ist und wer nicht. Im Namen göttlicher Rechte verweigern sie uns gleiche Menschenrechte. Das sind nicht nur islamistische Gruppen im Irak und in Syrien, das sind auch jüdische Gruppen in Israel, die erst vor kurzem Kirchen und Klöster angegriffen haben. Und das sind auch christliche Zionisten, und ihr habt auch hier einige davon, die Mitchristen angreifen, die es wagen, die israelische Besetzung zu kritisieren. Sie wollen unsere Stimmen zum Schweigen bringen. Sie wollen uns glauben machen, dass die Besetzung Gottes Geschenk an uns ist, und dass der Landraub, den wir erleben, die Erfüllung eines Versprechens Gottes sei.

Als christlicher Theologe muss ich sagen, dass nicht akzeptiert werden kann, wenn Menschenrechte  im Namen göttlicher Rechte  verletzt werden, oder dass Gott gegen die Menschen ausgespielt wird. Gruppen, die das tun, missbrauchen die Schrift für ihre eigenen politischen Ideologien, und sie unterscheiden sich wenig von ISIS. Die Schrift und die Charta der Menschenrechte  sind aus ein und demselben Grund da: um die Sanftmütigen zu verteidigen, die Rechte der Schwachen  zu schützen, den Mächtigen Grenzen zu setzen und sicher zu stellen, dass sich das Imperium den Gesetzen fügt. Beide, Religion und Staat, haben sicher zu stellen, dass die Macht des Gesetzes und nicht das Gesetz der Macht  vorherrschen, dass die Macht der Kultur und nicht die Kultur der Macht das letzte Wort hat. Keine Religion ist befugt, den Israelis mehr Rechte zu geben als den Palästinensern, Muslimen mehr  Privilegien als Christen oder Männern höhere Löhne als Frauen. Gleichheit ist etwas, worüber wir keine Kompromisse schließen können, und deshalb werden wir dem Konzept eines  religiösen Staates Widerstand leisten. Religiöse Staaten korrumpieren beide, Religion und den Staat: ein jüdischer Staat, ein islamischer Staat, oder ein christlicher Staat werden von ihrer Natur her einen Teil  der eigenen Bürger diskriminieren. Der Staat muss alle seine Bürger  gleich behandeln.

Der historische Schritt, den Schweden 2000 in gemeinsamem Einverständnis gegangen ist, diente einer gesünderen Beziehung zwischen der Kirche und dem Staat.

Wir werden mit diesen riesigen Herausforderungen konfrontiert, und die Frage lässt uns nicht los: Sollen wir aufgeben, sollen wir uns unserem Schicksal fügen, sollen wir eine Theologie gutheißen, die uns diskriminiert, oder sollen wir weggehen und irgendwo fern unserer Heimat Asyl suchen, abgeschnitten von unseren Wurzeln? Oder sollen wir uns in einen fundamentalistischen religiösen Mantel flüchten und uns damit trösten, dass die Dinge im Himmel viel besser sein werden und so ganz anders. Wir wählen keines davon. Wir wählen zu bleiben. Wir wählen Widerstand zu leisten, kreativen Widerstand. Widerstehen durch das Wort  und indem wir unsere eigene Narrative bauen und eine dynamische Identität entwickeln. Wir haben uns entschieden zu bleiben und die Besetzung herauszufordern, bis sie niedergerissen wird.

Wir haben uns entschieden, zu bleiben und mitzuhelfen beim Bau eines palästinensischen Staates, der die Menschenrechte, internationale Verträge und Pluralismus respektiert. Wir wählen zu investieren, investieren in die Infrastruktur, indem wir eine brandneue Universität  bauen und ein Kultur- und Konferenzzentrum. Wir haben optiert zu bleiben und unserer christlichen Gemeinde zu dienen, die Tag für Tag kleiner wird. Wir haben optiert zu  bleiben und die nächste Generation von palästinensischen Führungskräften zu trainieren, die in der Lage sind, ihre Geschichte  durch Kunst, Film, Tanz und Theater zu erzählen. Viele der jungen Leute im heutigen Palästina haben kein Problem damit, an ein Leben nach dem Tode zu glauben, aber sie können kein Leben vor dem Tod erblicken, das lebenswert ist. Wir haben uns verpflichtet, Raum zu schaffen für die Hoffnung, damit die jungen Leute  nicht davon träumen, für Palästina zu sterben, sondern davon, für ihr Land und für die Gemeinschaft zu leben. Wir wollen sie in dem Glauben festigen, dass der Himmel die Grenze ist und nicht die Mauer. Wir wollen, dass sie aktive Bürger werden, die sich für die Zivilgesellschaft engagieren und nicht davor zurückschrecken, Verantwortung zu übernehmen.

Wir haben unser Leben der Hoffnung gewidmet, wir fahren fort zu predigen, dass Frieden möglich ist, dass Israeli und Palästinenser nicht dazu verdammt sind, auf Ewigkeit im Konflikt zu verharren, sondern dass sie das Land, die Ressourcen und die Zukunft miteinander teilen. Der Preis, den wir heute erhalten, ist ein Anstoß, diesen Pfad weiter zu verfolgen.

Danke Schweden für die Treue zum  internationalen Recht  und zum Menschenrecht.
Danke der schwedischen Regierung für ihr Stehen zum Gespräch und die Anerkennung Palästinas.

Danke dem Olof Palme Fond und der Familie für das Stehen zum Kurs und zum Geist von Olof Palme.

Danke meiner Familie und meinen KollegInnen dafür, dass wir eine so großartige große Familie und ein solch starkes Team sind.
Danke euch FreundInnen für Eure stetige  Unterstützung und Ermutigung.

Exzellenzen,
Ich bin überzeugt, dass die Besetzung keine Zukunft hat. Ich habe keinen Zweifel, Gerechtigkeit wird kommen. Ich weiß, dass Frieden möglich ist. So dunkel es ausschauen mag, wir wollen auf den Traum hinarbeiten, bis wir den Strahl, das Licht der Freiheit sehen. Und wir werden frei sein, frei, frei!
Danke für diese Ehre  und für den Olof Palme Preis.

Quelle: www.palmefonden.se