Stefan Lemmermeier

Aus "rabs- religionsunterricht an berufsbildenden schulen" - 4/2016



THE LIVING OF THE PIGEONS

Über das Leben mit der Mauer zwischen Palästina und Israel

 Von Stefan Lemmermeier

„Wenn du dein Frühstück vorbereitest, denk an die anderen, vergesse nicht das Leben der Tauben“
(Mahmoud Darwish)


Das Heilige Land braucht Brücken, keine Mauern...“ – gerne erfülle ich den Wunsch von LeserInnen und Redaktion, diesen Impuls des „palästinensischen Schwaben“ Mitri Raheb, Pastor an der Weihnachtskirche in Bethlehem, mit dem er das zentrale Anliegen des internationalen Symposiums in Esslingen umschrieb (rabs 3/2016), zu vertiefen.

„Das Heilige Land braucht Brücken, keine Mauern...“, das ist so einfach gesagt, aber wie kann dies gelingen? Es ist hilfreich und unabdingbar, in einem ersten Schritt die Brücken und Mauern wahrzunehmen, die da sind. Filmemacher Baha’ AbuShanab, 22, hat dies getan, am Checkpoint 300 an der großen Mauer zwischen Israel und Palästina.

Sein inzwischen mehrfach preisgekrönter Film hat die Teilnehmer des Palästinatags 2016 sehr berührt, mit ihm konnte ich ein kurzes Interview führen.

Stefan Lemmermeier:
Baha, wie bist Du auf die Idee des Filmes gekommen?

Baha’ AbuShanab:
„Ich musste ein Visum beantragen in Israel. Dazu musste ich durch den Checkpoint, und da die Erlaubnis nur für einen, dafür aber ganzen Tag gilt, habe ich es ausgenutzt bis fast auf die letzte Minute. Ich wollte in den freien Stunden nach dem Behördengang einfach so lange es geht am Meer sein, ich kannte das Meer bis dahin nicht.

Als ich dann den Checkpoint wieder passierte, es war inzwischen kurz nach Mitternacht, sah ich, dass Händler ihre kleinen Stände aufbauten. Überall leuchteten die Petromaxe mit ihrem kleinen aber starken Licht. Ich unterhielt mich mit ihnen und sie erzählten mir von den Arbeitern, die hier mitten in der Nacht ankamen, um sich in den Gängen anzustellen und lange warten mussten, um auf der anderen Seite der Mauer Geld für den Lebensunterhalt ihrer Familie zu verdienen, zu denen sie dann erst am späten Abend wieder zurückkehren würden, um nach ein paar Stunden Schlaf wieder hierher an den Checkpoint zu kommen.

Mir, der ich selber Palästinenser bin, war diese Realität in ihrer Fülle unbekannt bis dahin, und so wurde mir klar, dass ich als Filmemacher meine Augen anderen leihen wollte, um diese Wirklichkeit zu sehen.“

Stefan Lemmermeier: 
Für wen hast Du den Film denn gemacht, an wen hast Du gedacht, welche möglichen Zuschauer hattest Du im Blick?

Baha’ AbuShanab:
Zuallererst habe ich den Film für meine palästinensischen Leute gemacht, die wie ich nichts von diesen Arbeitern der Nacht wussten. Ich wollte also Palästinensern etwas über Palästinenser erzählen.

Dass der Film über die Grenzen, über die Mauern, wenn man so will, hinaus bekannt wurde, war für mich eine große Überraschung. Im Nachhinein verstehe ich ein wenig, dass die abgrenzende Wirkung und Wirklichkeit von Mauern eine Erfahrung ist, die uns Menschen alle miteinander verbindet.

Und hier in Deutschland gibt es ja die Berliner Mauer mit ihrer ganzen Geschichte, vielleicht berührt Euch Deutsche das Thema ‚Mauern’ ja vielleicht deshalb so stark.“

Stefan Lemmermeier:
Hast Du die Berliner Mauer besucht?

Baha’ AbuShanab:
„Ja, wir waren als Gruppe dort, aber was für ein Begriff, was für ein Bild, eine Mauer ‚besuchen’! Das zeigt mir, dass Ihr hier in Eurer Gegenwart einen völlig anderen Umgang mit der Mauer habt: Es gibt in Berlin ein Mauermuseum, dort erklären Omas und Opas ihren Enkeln, wie das damals war mit der Mauer, wie sie funktionierte, was sie bedeutete. Ich habe dann gesagt: ‚Kommt zu uns: Euer Mauermuseum am Checkpoint Charlie hat Öffnungszeiten von 9-22 Uhr, bei uns könnt Ihr eine funktionierende Mauer erleben, live, 24 Stunden rund um die Uhr.’“

Gemeinsam entwickelten Abu und ich die Idee eines visionären Doku-Film-Projektes, der die kommende Wirklichkeit vorwegzeichnen könnte: Palästinensische und israelische Omas und Opas, die am Mauermuseum am Checkpoint 300 ihren Enkeln erklären, wie das damals war mit der großen Mauer, wie sie funktionierte. Sein Film „The living of the pigeons“ könnte auf Monitoren im Hintergrund laufen, und wie die Enkel die Großeltern mit großen Augen anschauen und wie sie dann symbolisch den nun offenen Checkpoint Hand in Hand durchschreiten. (Möglicher Titel: The grandchildren of the pigeons aus dem Jahre 20XX).

Was uns Hoffnung gab in unserem Gespräch, sind zwei Überzeugungen:

  1. Mauern haben in der Geschichte immer nur eine gewisse Zeit lang Bestand. Auch wenn es für ein Menschenleben eine unüberblickbare Zeit sein sollte, so wurde noch jede Mauer einmal überwunden.

  2. Auch wenn das Symbol „Stein“ schlechthin für die unbelebte Natur, für die Unbewegtheit an sich stehen, so stimmt dies in der Wirklichkeit eben gerade nicht: Der natürlich Zustand von Steinen ist die Bewegung, Meteorite fliegen durch das All in unvorstellbarer Geschwindigkeit, Gletscher bewegen Riesenfelsen über tausende von Kilometern, Flüsse und Meere, Winde und Regen formen und bewegen Steine unablässig.


Es kommt beim Betrachten nur auf die Zeitdimension an, mit der ein Stein betrachtet wird, jeder Stein in jeder Mauer wird sich einmal wieder weiterbewegen und ein erstes Loch in in der Mauer entstehen lassen.

„Vergesst die anderen nicht“ – dies gilt natürlich für beide Seiten der Mauer, wenn es schon die Trennung durch Mauern gibt. Mit Menschen auf beiden Seiten gut im Gespräch zu bleiben, gemeinsame Tische zu suchen, an denen ein Austausch im Kleinen stattfinden kann, ist ein kleiner Brücken-Baustein, der uns möglich ist.

Aber dieses Merkmal – die anderen nicht zu vergessen – zeigt auf, dass die Mauer nicht nur die weithin sichtbare Steinanhäufung ist, die Mensch in quasi vertikaler Richtung trennt, sondern es gibt eben eine Mauer in Herzens-vertikaler Richtung, die Menschen jeweils auf ihrer Seite der Mauer voneinander trennen kann, aber eben auch Menschen über die Mauern hinweg miteinander verbindet, wie es auch Sprachbilder enthüllen: re-cordare - erinnern auf Spanisch, erinnern, eine Verinnerlichung des anderen, die die Mauern nach und nach aufheben kann, eine Luftbrücke, wie Vögel sie beherrschen, Tauben vielleicht.

DAS LEBEN DER TAUBEN,
EIN BLICK AUF DEN FILM AM CHECKPOINT 300:


1:00 Uhr morgens:
Ein leerer Gang, ein militärischer Stacheldraht erscheint. Arabische Händler die, noch langsam von der Müdigkeit der Nacht, die Kisten aus ihren Autos holen und ihre kleinen Stände mit kleinen Verpflegungshäppchen für die Arbeiter, die hier entlang kommen werden, auspacken und herrichten. Langsam erscheinen die ersten Arbeiter, kaufen im hellen Licht der Petromaxe einen Schokoladenriegel oder zwei. Die ersten Arbeiter treten mit müden Gesichtern in den Schein der Lampen und gehen weiter. Ein Händler sagt: „Das Leiden von unterdrückten Menschen, sie kommen zwischen 1:00 Uhr und 2:00 Uhr nachts, am Morgen, sie kommen auf der Suche, wie sie für ihre Kinder etwas zum Essen und zu Trinken finden können, Geld für den Lebensunterhalt ihrer Kinder. Mach’ da mal ein Portrait, ich denke, das wird ein brillianter Film über das Leiden dieser Leute!“

2:00 Uhr morgens:
Ein junger Mann versucht, den militärischen Stacheldraht, der von oben in einen der Gänge gefallen ist, mit einer kleinen Zange abzuzwicken und aus dem Weg zu räumen, damit sich die bald heranströmenden zunehmenden Massen daran nicht verletzen können. Er versucht, den Stacheldraht auf dem parallelen ganz leeren Gang zu positionieren, er versucht auch, von Überwachungskameras nicht gesichtet zu werden, weil er sonst unangenehme Fragen von Soldaten bekommt, warum er ihren Checkpoint beschädige. Er versucht, vorzusorgen, denn 30 Minuten später würden die ersten Arbeiter kommen, würden versuchen, darüber zu springen.

3:00 Uhr morgens:
Stark prasselnder Regen setzt ein. Immer mehr Kleinbusse kommen, die neue Arbeiter mit Kapuzen vorbeibringen, sie laufen an den Ständen vorbei, kaufen vielleicht einen Pappbecher Kaffee oder Tee und einen Schokoriegel ein. Der vorhin noch leere Gang ist nun überfüllt mit einer unübersichtlich großen Zahl an Männern, die dicht gedrängt stehen und nicht weiterkommen, Gesicht an Gesicht. „Das Wichtigste“, so der alte Händler, „ist, dass Du am Ende des Tages genügend Geld findest, um Brot für Deine Familie zu kaufen, das ist alles, was wir versuchen zu erreichen.

Wir versuchen nicht, reich zu werden; wenn Du es jeden Tag am Ende schaffst, genug Brot für deine Familie zu kaufen und niemandem etwas schuldig zu bleiben, dann hast Du es geschafft, das ist alles. Es ist, als ob du im Himmel wärst.“ Er packt Fladenbrote für die Arbeiter ein. „Es ist vorbei“, sagt er, „das Leben ist vorbeigegangen. Wenn ich jetzt irgendwo hingehen möchte, muss ich meinen Stock mitnehmen.“

„Kaffee, Sahlab (Heißes Milchgetränk). Kaffee, Sahlab.“

4:00 Uhr morgens:
Ein Mann bietet die Getränke den langsam weiterziehenden Männern von der anderen Seite des Ganges über die Brüstung zwischen dem Stahlbeton an, man sieht in die Gesichter der Arbeiter, schwarze Haare, weiße Haare, Bärte. „Geduld, Geduld, ich komme ja schon, Gott ist mit den Geduldigen.“ Das Gedränge wird enger, der Lärm wird lauter. „Ich bin an diesem Übergang seit fünf Jahren, und seit fünf Jahren ist es genau so, wie Du es hier sehen kannst, es hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, es wird schlechter, jeder neue Tag ist schlechter als der Tag davor. Es gibt ein Schild, das besagt, dass dieser Gang ja für humanitäre Fälle ist, für alte Leute, für kranke Leute. Aber das ist alles eine Lüge. Die Soldaten öffnen den Gang für niemanden, sie lassen alle durch den Gang für die Arbeiter gehen. Die Älteren werden auf die Seite gedrängt, die Frauen werden zerquetscht. Das ist ein großer Mist, es gibt keine humanitären Fälle, sie wissen nichts von Menschlichkeit, Humanität.“

Ein alter Mann sitzt da erschöpft, macht eine Pause und raucht auf einer Bank an der Seite. Dann geht er weiter. Ein anderer Mann: „Wie kann man das überleben? Viele Arbeiter leiden Hunger und werden manchmal sogar ins Hospital deswegen eingeliefert, manche schaffen es nicht und geben auf. Es ist ein Leben der Erniedrigung. Ein Leben der Demütigung, unwürdig.“

5:00 Uhr morgens:
Der Blick über ein Meer von Köpfen, den Gang entlang. Manche versuchen, sich über die Brüstung zu hangeln und an den Köpfen der anderen vorbei auf der Brüstung nach vorne zu gelangen. Der Lärm der Stimmen nimmt zu, Arbeiter-Hände halten sich am Stahlgitter fest. „Schämt Ihr Euch nicht? Ihr tretet über die Köpfe der anderen hinweg, so als ob Ihr kein Schamgefühl hättet!“ Die Menge passiert ein engeres Tor. „Wer schubst von hinten, wer schiebt von hinten?“ Vorne lässt ein Drehkreuz einen nach dem anderen passieren, einen nach dem anderen. Sie haben es geschafft. Weiter hinten immer noch eine große Menschenmenge.

6:00 Uhr morgens:
Es ist jetzt hell geworden. Der Kaffee-Verkäufer: „Das ist es, das ist unser Leben am Checkpoint. Wir sind an diesem Checkpoint seit fünf oder sechs Jahren.“ Leichter Wind lässt die Pappbecher, die leeren Plastikflaschen vor sich her tanzen. „Wie Du hier siehst, sei es in der Kälte, bei Regen, im Sommer oder Winter.“ Der Händler vom Beginn des Films, Abu Al Saa’ed: „Ich habe die gleichen Gefühle wie die Arbeiter erlebt, ich bete aufrichtig, möge Gott ihnen helfen, ehrlich und aus vollem Herzen bete ich, möge Gott mit ihnen sein.

Was denkst Du, wenn jemand morgens um drei sein Zuhause verlässt und abends um 5:00 Uhr zurückkommt? Die eigenen Kinder sehen? Ihnen zuhören und mitbekommen, was sie gerade beschäftigt? Wann? Zu welcher Zeit? Sobald sie nach Hause kommen, sind sie gerade müde genug, um nur noch zu schlafen. Und dann können sie am nächsten Tag um drei Uhr morgens von neuem anfangen zu rennen und zu hierher laufen.

Was für ein Leben ist das? Es ist ein bitteres Leben. Das Leben ist bitter. Ich schwöre, es ist ein bitteres Leben. Ich fühle, was die Leute fühlen, ich fühle wie ein Tier, ich gehe nach Hause und lege meinen Kopf nieder zum Schlafen. Wieder aufwachen, nachmittags wieder aufwachen. Du wachst auf, duschst, isst etwas und siehst, die Sonne ist untergegangen und der Tag ist vorbei. Und wenig später legst Du Deinen Kopf wieder nieder zum Schlafen und das wiederholst Du jeden Tag wieder auf Neue.

Was für ein Leben ist das? Heißt Mensch-Sein Reduziert-Sein auf Essen und Trinken? Sind wir darauf reduziert? Haben wir nicht auch ein Recht auf Freude? Und wenn es nur für einen Tag lang wäre. Aber da ist kein Tag. Da ist kein einziger Tag. Das Leben ist bitter. Ich verspreche Dir, das Leben ist bitter. Ich sage es Dir einmal mehr. Möge Gott unseren Leuten helfen. Mehr kann ich nicht hinzufügen.“

Der Kaffeverkäufer packt seine Sachen zusammen, das Gedicht „Think of others“ von Mahmoud Darwish wird eingeblendet:

Wenn Du Dein Frühstück vorbereitest, denke an die anderen, vergesse nicht das Leben der Tauben.

Wenn Du Deine Kriege führst, denke an die anderen, vergesse nicht diejenigen, die den Frieden suchen.

Wenn Du Deine Wasserrechnung zahlst, denke an die anderen, diejenigen, die von den Wolken ernährt werden.

Wenn Du nach Hause kommst, in Dein Zuhause, denke an die anderen, vergesse nicht die anderen, die in den Lagern leben.

Wenn du schläfst und die Sterne zählst, denke an die anderen, die keinen Ort zum Schlafen haben.

Wenn Du Dich in einer Metapher befreist, denke an die anderen, die das Recht zu sprechen verloren haben.

Wenn Du an die anderen weit entfernt denkst, denke an Dich selbst, sage: „Wenn ich nur eine Kerze im Dunkeln wäre.“


STEFAN LEMMERMEIER ist Mitarbeiter des KIBOR, Schulseelsorger und Religionslehrer an der Landesberufsschule für das Hotel- und Gaststättenwesen in Bad Überkingen. s.lemmermeier@kibor-tuebingen.de